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Die Geschichte von Moritz und seinem Meilenstein

Eine Therapeutin hilft einem Kind, das auf einer Matte liegt, während bunte Fitnessbälle im Hintergrund sichtbar sind.

Im Umgang mit schwerstbehinderten Kindern lernt man Demut. Es verschieben sich die Prioritäten und Ansprüche. So wie sich Eltern bei dem ersten Lächeln oder Zugreifen eines Babys freuen, die ersten Worte oder Schritte festhalten, so könnte man es für selbstverständlich halten, dass ein Kind im Vorschulalter doch schon recht selbstständig ist und alleine essen kann. Doch bei Moritz und seinen Eltern ist nichts selbstverständlich. Moritz ist etwas ganz Besonderes. Er hat den sehr seltenen Gendefekt STXBP1, von dem es in Deutschland zurzeit nur rund 80 dokumentierte Fälle gibt. Bei Moritz wurde dieser Defekt erst bzw. schon im zweiten Lebensjahr diagnostiziert. In der Regel warten Betroffene viele Jahre bis eine Diagnose gestellt werden kann. Die Suche nach einem selten vorkommenden Gendefekt, kann sich zur Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen entwickeln.

STXBP1 ist eine genetische Veränderung auf dem Chromosom 9, weshalb die Nervenzellen im Körper nicht richtig miteinander kommunizieren können. Wichtige Informationen werden nicht an das Gehirn weitergeleitet. Diese Genmutation tritt in der Regel ganz spontan „de-novo“ auf. Es ist auch kein Einfluss durch das Verhalten in der Schwangerschaft bekannt. Selten, aber durchaus möglich ist, dass wenn einer der Eltern Träger von Teilen dieser Veränderung ist, kann diese Genmutation auch durch Vererbung weitergegeben werden. Bei Moritz trat die Mutation „de novo“ auf, für die es bisher keine Heilung gibt.

Betroffene sind in ihrer Entwicklung gestört oder zumindest verzögert, sowohl bei motorischen als auch bei kognitiven Fähigkeiten. Betroffene leiden häufig unter starken Epilepsien, was bei Moritz zum Glück bisher nicht der Fall ist. Zwar gibt es Auffälligkeiten in seinem EEG, jedoch nichts greifbares in Bezug auf eine Epilepsie. Der Siebenjährige ist allerdings auf Orthesen bis unter das Knie angewiesen und braucht ein spezielles Kinder-Reha-Bett mit Gittern. Unter anderem fällt ihm das Gehen auf Grund der Fußfehlstellungen sowie der schlechten Kommunikation der Nerven und Muskeln mit dem Gehirn sehr schwer. Zum Glück konnte er frühzeitig einen heilpädagogischen Kindergarten der Lebenshilfe besuchen und ist im letzten Sommer in eine Klasse der Likedeeler Schule eingemündet. In beiden Einrichtungen sind die Plätze auf acht Kinder begrenzt.

Wie fast alle betroffenen Kinder hat auch Moritz eine schwere Sprachstörung deren Entwicklung nicht vorhersehbar ist und Fälle dieser Art nicht vergleichbar sind. Mit entsprechender Förderung können STXBP1-Patienten ein Sprachverständnis entwickeln und in ganz seltenen Fällen ein paar Wörter sprechen. Moritz befindet sich mit seinen sieben Jahren derzeit auf einem Entwicklungsstand von 1,5 bis 2,5 Jahren. Körperlich ist sein Wachstum jedoch normal entwickelt.

Moritz’s Eltern Maike und Jan sagen: „Die Pflege von Moritz und der Alltag sind sehr aufwändig.“ Allerdings macht es die Tage leichter, weil Moritz so ein liebenswerter kleiner Kerl ist. Starke Verhaltensauffälligkeiten, sonst ein gängiges Symptom bei STXBP1-Patienten, sind bei Moritz nicht vordergründig. Zum Glück ist er auch auf keinerlei Medikamente angewiesen.

Anstrengend sind die Tage im Leben der Familie schon. „Wir müssen immer auf ihn achten. Moritz hat keine Gefahreneinschätzung. Steckt sich alles in den Mund. Solange er wach ist, ist kein Abschalten möglich“, beschreibt Jan die täglichen Herausforderungen. Maike ergänzt lachend: „Er ist ein Gefahrensuchgerät – mit 100 prozentiger Erfolgsquote.“ Es ist eine zunehmend körperliche Belastung, den Jungen zu tragen, denn je älter Moritz wird, umso schwerer wird er. „Die mentale Belastung ist ebenfalls extrem groß: Wir haben zwar damals einen Namen als Diagnose bekommen und man ist erstmal froh, dass das was keiner einem vorher sagen konnte, nun benennen kann. Aber was diese Diagnose dann in der Folge bedeutet, sagt einem keiner. Wir lernen jeden Tag aufs Neue und jeden Tag gibt es neue Herausforderungen für die wir sofort Lösungen finden müssen“, sagen Moritz’s Eltern. Über die Lebenshilfe haben sie aktuell zwei tolle Babysitterinnen für ihn gefunden, die es ihr und ihrem Mann erlauben, mal ohne ihren Sohn auszugehen, Zeit zu zweit oder mit Freunden zu verbringen.

Ausflüge oder Urlaube müssen generalstabsmäßig geplant werden! Einfach „Koffer packen und los“, das ist mit Moritz nicht möglich. Dabei liegt es nicht an ihm, es sind die Dinge, die er braucht, um gut versorgt zu sein. „Das beginnt mit dem Auto, um mobil zu sein“, erklärt Jan, „ein normales Familienauto reicht nicht mehr, wir haben uns einen entsprechend flexiblen Bus gekauft.“ Dort passt nun alles rein, von Rolli über Therapiestuhl und ausreichend Windeln, Kleidung etc. Im Bus kann Moritz auch gewickelt werden, denn auf normale Wickelliegen wie auf einem Rasthof, passt er nicht mehr drauf. Vor der Anschaffung musste Moritz zum Teil in aller Öffentlichkeit gewickelt werden.

Zum Ende der Corona-Einschränkungen hat die Familie sich um die Möglichkeit bemüht Urlaub auf dem Neuen Kupferhof in Hamburg machen zu können. Denn dort ist man auf solche Spezialisten wie Moritz eingerichtet. Bisher ist es der Familie zweimal gelungen, einen freien Platz dort zu ergattern. Zur Anmeldung müssen bei der Einrichtung neun Formularseiten ausgefüllt werden. Bei einer Zusage müssen weitere Anträge gestellt werden: Bei der Pflegekasse für die Kurzzeitpflege und bei der Eingliederungshilfe des Landkreises für die Kostenübernahme. Rund vier Wochen vor der Anreise müssen alle Kostenzusagen vorliegen und ca. 30 Seiten Pflegebögen ausgefüllt werden plus Ernährungsplan.

Insgesamt drei Wochen konnten die Drei in der Einrichtung bisher verbringen, verteilt auf zwei Termine. „In den ersten Tagen waren wir noch angespannt, haben viel Schlaf nachgeholt, denn die permanente Erschöpfung wirkte noch nach. Aber wir konnten auch endlich einmal durchschlafen, was auch etwas Besonderes für uns ist. Erst in der zweiten Woche kam die Erholung und wir hatten das Gefühl der Pause, um den Akku wieder aufladen zu können. Wir haben zudem die Zeit zu Zweit sehr genossen. Das war wichtig für unsere Partnerschaft.“ Das Pflegeteam beschreiben Maike und Jan als bestens ausgebildet, denn auch ein guter Personalpflegeschlüssel sei wichtig, damit man als Eltern Ruhe und Zeit finde. In dieser Umgebung geschah etwas, was vorher undenkbar schien: Moritz wurde bis dato das Essen immer angereicht. Hier war nun genug Raum und Zeit, in der er gelernt hat assistiert zu Essen. Moritz hat essen gelernt! Dazu muss man wissen, dass Moritz Nahrung nicht kaut, sondern alles eine breiartige Konsistenz haben muss.

Maike: „Wir waren wirklich sehr erstaunt, als wir Moritz quasi alleine essen sahen, ausgestattet mit einem Löffel den er sich in den Mund schob. Klar, es ging (und geht bis heute) viel daneben, aber er hatte das Prinzip verstanden und baut es immer weiter aus. Es ist ein Meilenstein in seiner Entwicklung, von dem wir nie zu träumen gewagt hätten.“ Ob es die Ruhe an diesem Ort ist, die Auszeit vom Alltag mit mehr Möglichkeiten, sich intensiv um die schwerstbehinderten Kinder zu kümmern, der freiere Umgang des Pflegeteams ohne enge zeitliche Taktung; auf jeden Fall sind für Maike und ihren Mann Urlaube außerhalb einer speziellen Einrichtung gar nicht denkbar. „Urlaub auf dem Neuen Kupferhof bedeutet Sicherheit für uns Eltern, Sicherheit, dass Moritz gut umsorgt ist“, sagen beide.

Mittlerweile ist bei Moritz die Gabel als Werkzeug auch etabliert. Er hat sogar begonnen ein bis zwei Runden zu kauen, was seine Möglichkeiten an Essen sehr erweitert hat. Alles begann jedoch mit einem Löffel und dem Verstehen durch ständige und beharrliche Wiederholungen. Dies war nur möglich ohne Zeitdruck, ohne irgendein medizinisches Ziel in einer speziellen Kurzzeitpflegeeinrichtung für Kinder, in der die Kinder einfach Kind sein dürfen und die Eltern Kraft tanken können.